Kurzgeschichte aus dem Band La fin des haricots von Cornélia de Preux.
Aus dem Französischen von Barbara Sauser
Erhältlich auf: https://pdl.testpreprod.ch/produit/la-fin-des-haricots
Weitere Werke der Autorin :
L’Aquarium : https://pdl.testpreprod.ch/produit/laquarium
Le chant du biloba : https://pdl.testpreprod.ch/produit/le-chant-du-biloba
Das Hemd
Zum Abendessen sei er zurück, hat er gesagt.
Zuerst macht sie sich keine Sorgen. In Gedanken versunken, bereitet sie die Mahlzeit zu.
Warum ist er eigentlich mit dem Auto gefahren? Er hätte den Zug nehmen können. Seine enge Beziehung zu Xsara ärgert sie. Immerzu hätschelt er sie, fährt stolz mit ihr herum.
Aber wie schön er heute morgen war! Sie wundert sich selbst, dass ihr die an der Schläfe aufgetauchten Silberfäden so gefallen. Dabei haben sie sich beim Aufstehen wieder gestritten. Wegen einer Bagatelle. Weil sie nicht wollte, dass er ein bestimmtes Hemd anzog. Sie hatten ihre Stimmen erhoben. Manchmal kann sie es sich nicht verkneifen, ihren Senf dazuzugeben. Ihr Gift.
Jetzt macht sie sich Vorwürfe. Gelobt sich, ihm keine Szenen mehr zu machen wegen solchen Lappalien. Soll er doch anziehen, was er will, es ist völlig egal. Dem Frieden zuliebe hatte er am Morgen nachgegeben und das Scharlachrote angezogen. Die Farbe passe besser zur Jahreszeit, hatte sie verkündet.
Noch eine dieser endlosen Kommissionssitzungen! Danach gibt es sicher einen Weissen. Oder einen Kir. Das liebt er. Es ist leichtsinnig, sich mit so viel Alkohol im Blut hinter das Steuer zu setzen.
Der Salat ist gewaschen, der Gemüseauflauf steht bereit. Sie braucht nur noch die Mikrowelle einzuschalten, sobald er da ist.
So setzt sie sich auf die Veranda, schlägt die Zeitung auf. Sie schafft es nicht, sich zu konzentrieren. Wo bleibt er bloss? Ein Blick auf die Uhr, sie geht in die Küche, tritt in den Garten, kehrt ins Haus zurück.
Normalerweise gibt er Bescheid, wenn es später wird. Ein Stau? Kommt auf dieser Strecke selten vor. Er könnte wenigstens anrufen. Vielleicht hat er sein Handy im Büro vergessen. Oder die Batterie ist leer. Nein, sie hat ja gesehen, dass er das Gerät am Morgen aufgeladen hat.
Eine Geliebte? Deswegen also musste es unbedingt das kiwifarbene Hemd sein. Es steht ihm wirklich gut. Hmm, ein Abenteuer … Ist es schon so weit mit ihm? Nun, ob Geliebte oder nicht, er hätte angekündigt, dass er sich verspätet.
Also ist etwas passiert.
Genau, ein Unfall.
Falls es sich nur um kleinen Flirt handelt, wird sie darüber hinwegsehen. Wenn er nur jetzt sofort zurückkommt.
Sie muss diese Gedanken vertreiben. Etwas Mechanisches tun, zum Beispiel den Bügelberg in Angriff nehmen.
All diese Hemden machen sie verrückt. Jeden Tag eins. Soll er sich doch selbst darum kümmern! Nein, sie wird keinen Finger mehr rühren, dann ist er gezwungen, es selbst zu tun.
Aber das bringt jetzt auch nichts … Nie wieder einen Finger rühren. Ein unerträglicher Gedanke. Wenn er jetzt bald kommt, bügelt sie ihm zehn Hemden täglich. Oder noch mehr.
Seit einer Stunde müsste er da sein!
Er ist auf der Autobahn eingenickt. Mit vollem Tempo in ein anderes Fahrzeug gerast. In eine Lärmschutzwand. In einen Baum.
Sie versucht, ihre Atmung zu kontrollieren. Einatmen, ausatmen. Langsam. Und sie macht ihm das Leben schwer wegen eines Hemds. Blutrot. Die Farbe ist schuld.
Ihr Herz rast.
Sie kauert auf der Küchenbank. Sagt ein «Vater unser» auf. Dabei ist das nicht ihre Art. Sie spult zwei oder drei Gebete herunter, die ihr gerade einfallen. Automatisch, ohne an die Bedeutung der Worte zu denken. Dann erfindet sie immer kürzere. Bitte – bitte – bitte … Mach, dass – mach, dass – mach, dass …
Das Knirschen der Reifen in der Allee unterbricht ihre Litanei. Sie richtet den Rücken gerade, steht auf, schaltet die Mikrowelle ein.
Die Ruhe ist zurückgekehrt. Sie macht es sich auf der Veranda bequem, schlägt erneut die Zeitung auf.
In dreissig Sekunden wird er da sein, bei ihr. Müde, aber lebendig.
Morgen früh, gelobt sie sich, kann er das Hemd anziehen, das er will.
Aus dem Französischen von Barbara Sauser